Generation Rock 1.0

03.11.2018 | 21:26 Uhr

Generation Rock – ein Projekt der LAG Rock Niedersachsen im Demenzzentrum Heinemannhof Hannover.
Drums, Apps und Gesang aus vollem Herzen.
Leidenschaftlich. Motiviert. Vergesslich.

Januar 2018

Ohne Briefing stehe ich zum ersten mal in einer geschlossenen Abteilung schwer dement veränderter Menschen.
Mit mir Johanna und Jonathan, zwei junge Studenten, ausgerüstet mit Geige und Trompete.
Auch wir begegnen uns hier zum ersten Mal und schmieden schnell einen spontanen Plan:
An alte Lieder anknüpfen und schauen was passiert.
Mit uns im Raum sind inzwischen 15 Menschen.
Alle werden vom Personal einzeln in den Raum gebracht. „Hier passiert nichts von alleine“, werde ich augenzwinkernd aufgeklärt.

Alles was ich weiß ist, dass ich hier viel lernen werde.

Das Experiment startet:
„Es tönen die Lieder“ schallt herzerweichend laut und textsicher in den Raum.

In der App ThumbJam ist eine „Schalmei“ vorbereitet, nach jedem Gesangsdurchlauf spielt ein Teilnehmer ein improvisiertes Solo.

Zaghaft, kurz, befremdet.

In einem nächsten Stück probieren wir über die Apps eine musikalische Kommunikation herzustellen. „Die Gedanken sind frei“.
Jonathan – der Student- spielt seine Trompete.
Für die Teilnehmer ist in ThumbJam eine Trompete in A Dur vorbereitet.

Gleiches Spiel: Nach jeder Strophe ein intuitives Solo, diesmal abwechselnd mit der „echten“ Trompete im Raum. Einige Spieler können wunderbar darauf eingehen, anderen ist es durch die fortgeschrittene Demenz nicht mehr möglich. Sie bleiben bei sich.

Von Termin zu Termin wird das Tablet vertrauter.
Auf einem Rolator-„Stativ“ wandert es von Bewohner zu Bewohner. Wir bemerken längere Spielsequenzen, freudige Zugewandheit und weichende Skepsis.

Wir arbeiten mit viel Feingefühl daran, die Stärken eines jeden Bewohners zu erkennen und zu fördern.
Starke Stimmen, starker Rhythmus, stark im Umgang mit dem neuen Medium. Jeder findet seinen Platz, seine Rolle und seine Aufgabe im Team.

Ich lerne bei jedem Termin im Hier und Jetzt zu sein. Was letztes mal war und nächstes Mal sein könnte hat überhaupt keine Bedeutung. Ich lerne mein Tempo zu reduzieren, das weniger mehr ist und das jedes Lied gerne auch 5x hintereinander wiederholt werden darf.

März 2018

Von der anfänglichen Versuchs- & Irrtumsphase sind wir inzwischen bei strukturierten Bandproben angekommen.
Die Setliste steht und der Termin für das Konzert auch.

Unsere Begegnungen gewinnen an Vertrautheit auf verschiedenen Ebenen: Von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Technik, von Eigenart zu Eigenart.
(Die Silbe Art bekommt hier eine ganz neue Bedeutung 🙂

Frau M., die oft erzählt, dass sie früher dafür gesorgt hat dass ihre Töchter Geige spielen lernten, bestätigt erfreut: „Ja, so klingt das“, als ich ihr in einer App einen Geigensound einstelle.
Sie spielt eine Weile, sucht nach Motiven und möchte gar nicht aufhören. Dann hebt sie den Kopf, schaut mich an und sagt sichtlich gerührt über ihr eigenes Spiel: „Das ist doch nicht möglich!“

Dann spielen wir einen unserer Hits: „Du liegst mir im Herzen“. Frau M. spielt ein zartes Violinensolo in der App ThumbJam, Johanna steigt mit der Geige ein, der Gesang beginnt…

So klingt das:

Frau M`s erfreuter Kommentar: „Sauerkraut und Bratkartoffel!“ 🙂

Beim nächsten Mal werden wir Frau M. alles erneut zeigen. Sie wird mir erklären, dass nicht sie sondern ihre Töchter Geige gespielt haben. Ich werde ihr erklären, dass sie hier mit diesem speziellen Instrument vor sich auch mit Geigentönen spielen kann. Sie wird es nicht glauben. Ich werde es mehrmals zeigen und sie bitten mit ihrem Zeigefinger die Glasplatte zu berühren. An guten Tagen spielt sie dann erfreut los. An schlechten Tagen verweigert sie kopfschüttelnd.

Frau I. verweigerte über Wochen entschieden die Annahme des Tablets. Zwei Rasseln nahm sie, aber eher unmotiviert. Manchmal verließ sie auch den Raum. Jedesmal bot ich ihr das Tablet erneut an und eines Tages strahlt sich mich plötzlich an und möchte das ich ihr das Tablet auf ihrem Rolator spielbereit platziere.
Seitdem ist sie die Flötistin in „Es tönen die Lieder“. Ihre ganze Stimmung ist seitdem verändert. Sie betritt den Raum in freudiger Erwartung und bleibt bis zum Ende bester Laune.

Herr F. spielt heute Klavier. In der App Gestrument ist ein Klaviersound der Tonart entsprechend vorbereitet. Die Oberfläche zeigt einen deutlichen Punkt, der gegriffen werden muss und dann über den Screen geführt wird. So erklingt ein mehrstimmiges Klaviersolo.
Herr F. findet schnell Zugang und kann sich atmosphärisch auf das Stück einlassen. Er stellt musikalische Zusammenhänge und Bezüge zu dem Song her.
Das gelingt nicht allen Bewohnern. Einige wischen nur desorientiert über die Oberfläche und bleiben unbeachtet des eigentlichen Musikstücks in ihrer Welt. Oder haben mit der Touchbedienung Schwierigkeiten, sodass sich die App immer wieder von selbst schließt oder andere Fenster aufpoppen.

Musikapps müssen also entsprechend ausgewählt werden. Je übersichtlicher und je größer der Bewegungsradius auf dem Touchscreen, desto beser.
Herrn F.s Aufgabe ist es heute, immer dann zu spielen wenn nicht gesungen wird und zu pausieren wenn gesungen wird. Er beginnt mit dem Intro.
Die Gruppe setzt mit einem leidenschaftlichen Gesang ein: „Für mich soll’s rote Rosen regnen“.

Das Lied ist mit uns in die Gruppe gekommen. Nächstes Mal sind die Strophen dran. Es steht nicht in ihren Liedermappen und ist somit außerhalb des bekannten Repertoires. Es ermutigt mich nach weiteren „neuen“ Liedern zu suchen. Mal sehen was wir noch aktivieren können.

Auch unsere Gespräche entwickeln sich. Es wird diskutiert. Bewohner merken an was ihnen gefällt und was nicht und ob jemand zu leise oder laut ist. Mal erkenne ich Zusammenhänge in den Gesprächen, mal nicht.

Inzwischen irritiert es nicht mehr dass ich auf kaum eine Frage eine Antwort bekomme, das ein beginnendes Gespräch nach zwei Sätzen im Nirgendwo landet oder sich als eine Aneinanderreihung scheinbar wahlloser Assoziationen entwickelt.
Es irritiert nicht mehr das jemand aufsteht und geht, das etwas beim letzten Termin wunderbar geklappt hat und heute unmöglich zu sein scheint.
Wir sind komplett im Hier und Jetzt. Alles ist. Und alles ist richtig so. Jede Begegnung ist eine neue Begegnung – mit dem einzigen Ziel Stärken zu erkennen, zu aktivieren, anzuknüpfen, zu teilen.

Fazit:
Musikapps bieten in dieser Arbeit immense Möglichkeiten in der Instrumentenauswahl und im klanglichen Erleben.

Bisher haben die Bewohner hier gesungen. Es wurden Liedermappen und orffsche Instrumente ausgeteilt und los ging’s.
Musikapps erweitern jetzt das klangliche Spektrum und sie bekommen die Möglichkeit sich mit fast allen Instrumentenklängen musikalisch auszudrücken und einzubringen, vielleicht auch an Bereiche und Situationen ihres Lebens anzuknüpfen. (s. Frau M. und ihre Töchter etc.)
An ihren Kommentaren wird hörbar, dass auch sie das als bereichernd empfinden. Spielt jemand ein Klavier oder ein zartes Flöten- oder Geigensolo, höre ich nicht selten ein begeistertes „schön“, „ja sehr schön“ und schaue in verträumte Zuhörergesichter.

Auch ein ehemaliger Musikprofessor ist in der Gruppe. Für ihn ist es häufig sehr schwer falsche Töne zu ertragen, und wenn das Getrommel zu „Alle Vögel sind schon da“ zu wild wird, kommentiert er gerne mal: „Das ist unterhalb der Gürtellinie!“
Herrn F´s Klavierspiel wird heute mit einem begeisterten „Hervorragend!“ betitelt 😉

Noch ein Fortschritt ist, dass inzwischen alle die Texte auswendig singen. Die Liedermappen sind im Schrank verschwunden.

Eine sehr sensible Arbeit, bei der jede neue Begegnung – eine neue Begegnung ist.

Ich freue mich auf die nächsten drei Monate und halte hier in unregelmäßigen Abständen auf dem Laufenden.

Das Konzept für das Projekt „Generation Rock“ hat 2017 den „Förderpreis Musikvermittlung“ von Musikland Niedersachsen und der Niedersächsischen Sparkassenstiftung gewonnen.

Sauerkraut und Bratkartoffel!